Dieses Interview wurde am 29.08.2018 im Originial auf dem SAS Blog veröffentlicht. Herzlichen Dank an Andreas Becks für das Gespräch.

Im Kölner Stadtteil Mülheim, unweit der Keupstraße mit ihrem orientalischen Charme aus Dönerrestaurants, Baklava, Cafés und Moscheen sowie neben alten Backsteinhallen, Konzertsälen und Fernsehstudios liegt Carlswerk, ein großes ehemaliges Industriegebiet, das durch den Einzug neuer und etablierter Unternehmen, Restaurants und Freizeiteinrichtungen verändert wurde. Es sieht nicht nach einem Ort aus, an dem die Zukunft der deutschen Versicherungswirtschaft gestaltet wird. Und doch ist genau das passiert. InsurLab Germany hat seinen Sitz hier, eine Plattform, die etablierte Versicherer mit Technologie-Startups, InsureTechs, Technologieunternehmen sowie Forschungs- und Beratungspartnern zusammenbringt, um die digitale Transformation der deutschen Versicherungswirtschaft voranzutreiben. Andreas Becks von der SAS hatte kürzlich Gelegenheit, mit InsurLab-Geschäftsführer Sebastian Pitzler und Partnermanager Herbert Jansky darüber zu sprechen, wie Innovationen in der deutschen Versicherungswirtschaft heute funktionieren.
Amazon will Lebensversicherungen verkaufen und meinen Hausrat und neue Anschaffungen versichern. Ist Alexa meine neue Versicherungsmaklerin? Was bedeutet dieses Szenario für die deutsche Versicherungswirtschaft?
Sebastian Pitzler: Das Thema Digitalisierung und Innovation beschäftigt heute mehr denn je die deutsche Versicherungswirtschaft. Das ist auch einer der Gründe, warum wir als InsurLab Germany bekannt sind. Wir sind heute Deutschlands größte Brancheninitiative zur Vernetzung von Start-ups und Versicherungsunternehmen. Es wurde deutlich erkannt, dass sich durch die Digitalisierung neue Möglichkeiten ergeben, sowohl gegenüber den Kunden als auch in internen Prozessen, zum Beispiel durch Automatisierung. Technologien wie künstliche Intelligenz, Blockchain oder das Internet der Dinge versprechen erhebliches Innovationspotenzial sowie neue Produkte und Dienstleistungen. Die Versicherer müssen sich an veränderte Kundenbedürfnisse und -verhalten anpassen. In unserem Alltag erleben wir alle Produkte und Dienstleistungen, die sich so grundlegend von dem unterscheiden, was wir bisher von Versicherungsunternehmen gesehen haben. Hier ist also etwas miteinander verknüpft: das Bewusstsein, dass man aktiv werden muss, denn die Digitalisierung ist da. Auch neue Formen der Zusammenarbeit mit Start-ups und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit entstehen. Dies gibt uns erhebliche Impulse, damit wir dieses Thema angehen und die Versicherung wirklich überdenken können – vor allem, wenn der Druck von außen kommt, wie zum Beispiel von Amazon.
Herbert Jansky: Man muss sich die aktuellen Entwicklungen sehr genau ansehen: Will Amazon als Schnittstelle zwischen Versicherer und Kunde fungieren, z.B. als Aggregator? Oder will sie wirklich irgendwann selbst ein Risikoträger sein? Die Internet-Schnittstelle ist bereits vorhanden, z.B. über Aggregatoren wie Check24 oder eine gezielte Online-Platzierung wie mit Google AdWords – aber die Art und Weise, wie Amazon spielen wird, wird spannend sein. Und wahrscheinlich werden im Moment mehr außerhalb Deutschlands ausprobiert.

Mit welchen Themen beschäftigen sich Versicherungsunternehmen heute, insbesondere im Rahmen der Digitalisierung?
Sebastian: Wir haben eine Umfrage unter unseren Mitgliedsunternehmen durchgeführt. Hauptthemen sind die Digitalisierung der Kundenschnittstelle, Künstliche Intelligenz/Prädiktive Analytik/Maschinenlernen, Blockchain und Smart Contracts, Betrugserkennung und -prävention, aber auch das Internet der Dinge mit „Disziplinen“ wie Smart Home, Connected Cars und Digital Health.
Diese Themen und auch die von Ihnen erwähnten Störungsszenarien sind nicht wirklich neu. Wir diskutieren sie schon seit langem. Es besteht die Auffassung, dass Versicherungsunternehmen unterschiedlich reagieren und bei Innovationsinitiativen sogar vorsichtiger sein könnten. InsurLab Germany ist eine lebendige Austauschplattform. Aber hat es wirklich strategische Bedeutung für seine Mitglieder, oder ist es eher eine Freizeitveranstaltung für interessierte Mitarbeiter von Versicherungsunternehmen?
Sebastian: Wir konzentrieren uns sehr stark auf seine strategische Bedeutung für die Entwicklung der Mitgliedsunternehmen. Dies hat zwei Gründe. Erstens, um mit der Zeit Schritt zu halten und zu sehen, was die Trends und Technologien sind und wie sie in die Versicherungswirtschaft umgesetzt werden können. Wir verstehen uns als Mediatoren und Übersetzer. Auf der anderen Seite sind wir eine Netzwerkplattform, die sich diesen Herausforderungen gemeinsam stellt, aber auch Organisationen ermöglicht, spannende neue Partner zu finden. Viele Vorstandsmitglieder und Entscheidungsträger von Versicherungsunternehmen nehmen an unseren Veranstaltungen teil. Deshalb ist es uns sehr wichtig, in den von uns entwickelten Angebotsformaten sehr konkrete Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, in denen an realen Projekt- und Innovationsideen gearbeitet wird. Wir organisieren Workshops mit klar definierten nächsten Schritten. Wir sind keine „nice event“ Agentur. Wir wollen eine spürbare Wirkung erzielen, die die Versicherungswirtschaft nachhaltig verändert und in das Thema Digitalisierung einführt.
Kannst du einen Workshop-Tag beschreiben? Was passiert, und was ist das Ergebnis?
Herbert: In unseren Innovationsworkshops laden wir Start-ups ein, um ein bestimmtes Thema zu diskutieren, z.B. die Digitalisierung der Kundenkommunikation oder die prädiktive Analytik und das maschinelle Lernen, für das SAS die Keynote lieferte. Unser Ziel ist es, so viele konkrete Projekte oder PoCs wie möglich zwischen Versicherungen und Startups zu entwickeln. In der Regel haben wir vier bis fünf Startups, die ihre Idee, ihr Geschäftsmodell oder ihre Technologie vorstellen und den Versicherern präsentieren. Nach den Pitches stehen die Start-ups wie auf einem Markt in verschiedenen Ecken des Raumes, und die Versicherungsvertreter wählen das interessanteste Start-up, das eine spannende Zusammenarbeit ermöglicht. Die genaue Projektidee wird dann am Nachmittag in kleinen Arbeitsgruppen ausgearbeitet. Um diese Arbeit zu verbessern, sind in jeder Arbeitsgruppe Unternehmensberater aus unseren Mitgliedsunternehmen vertreten, die den Prozess moderieren. Am Ende des Tages präsentieren die Arbeitsgruppen die Ergebnisse den anderen Teilnehmern.
Versicherungsunternehmen haben eine lange Tradition im Einsatz von Analysemethoden. Wo steht die Versicherungswirtschaft in Bezug auf moderne Analytik und künstliche Intelligenz? Das haben unsere Branchenexperten in persönlichen Gesprächen mit Versicherern aus ganz Europa herausgefunden.
Wie sieht es mit der Nachhaltigkeit der Workshops aus?
Herbert: Nehmen wir unseren Innovationsworkshop zur Digitalisierung von Kundenbeziehungen als Beispiel. Wir haben 10 mögliche PoCs auf Papier gebracht. Das erste Folgeprojekt ist bereits beauftragt und befindet sich in der Endphase – eine Alexa-Skill wurde für die Kundenkommunikation entwickelt – und mehrere weitere Projekte befinden sich in der Ramp-up-Phase.
Das klingt gut. Wie sehen Sie die Kultur der Innovation und Agilität in der gesamten deutschen Versicherungswirtschaft? Werden wir diese Ideen bald von unseren eigenen Versicherungsgesellschaften erleben können? Wie stellen etablierte Versicherungsgesellschaften sicher, dass innovative Ideen nachhaltig umgesetzt werden?
Herbert: InsurLab Germany wurde von der Versicherungswirtschaft zusammen mit Politik und Wissenschaft gegründet, um sich genau der Digitalisierung und Innovation zu widmen. Der Impuls kam aus der Industrie, und unser Rahmenprogramm wurde gemeinsam mit den Mitgliedern entwickelt. Als Kernteam setzen wir dieses Programm um und geben eigene Impulse. Aber alles, was wir tun, steht in engem Kontakt mit den Mitgliedsunternehmen.
Sebastian: Das Thema und der damit verbundene Innovationsdruck hat die Top-Entscheider der Versicherungswirtschaft erreicht. Ja, Unternehmen unterscheiden sich in Bezug auf Innovationskultur und -prozesse. Aber der absolute Wille ist da, Ideen auszutauschen, zu kooperieren und Innovationsprojekte umzusetzen. Vor kurzem wurde ich als Moderatorin auf die so genannte Digisurance-Konferenz eingeladen. Die einhellige Meinung und der breite Einblick in verschiedene Diskussionen und Keynotes an diesem Tag waren, dass echte Innovationen entstehen, wenn etablierte Unternehmen mit Start-ups zusammenarbeiten und gemeinsame Projekte realisieren. Die Versicherungsgesellschaften werden es nicht alleine schaffen. Offenheit und Zusammenarbeit sind der Weg in die Zukunft.