Nach fünf Jahren mit Sebastian Pitzler an der Spitze hat unsere Brancheninitiative seit dem 1. Mai mit Anna Kessler eine neue Geschäftsführung! Wir haben die Gelegenheit direkt genutzt, um mit Anna über einige Themen, Trends und Herausforderungen der Versicherungsbranche zu sprechen.
Anna, in Bezug auf die digitale Wettbewerbsfähigkeit hat Deutschland im internationalen Kontext noch Verbesserungspotenzial. Wo steht denn die deutsche Versicherungsbranche im Vergleich zu anderen Branchen sowie im länderübergreifenden Wettbewerb?
Die Versicherungswirtschaft hat in den letzten Jahren bereits deutlich erkennbare Fortschritte im Hinblick auf Digitalisierung sowie Offenheit für neue Themen und Lösungsansätze gemacht. Zum einen erkennt man das daran, dass sich etablierte Versicherungsunternehmen zunehmend für Kooperationen mit innovativen Start-ups öffnen, wie zahlreiche Erfolgsgeschichten aus dem Ökosystem des InsurLab Germany zeigen. Zum anderen experimentieren einige Versicherer auch selbst mit neuen Ansätzen und Technologien, beispielsweise durch Ausgründungen oder strategische Zukäufe und Beteiligungen.
In der heutigen, schnelllebigen und sehr komplexen Welt wird es immer entscheidender, Geschäftsmodelle, Produkte und Services deutlich kund:innenorientierter und schneller zu entwickeln sowie umzusetzen. Hier beobachten wir im internationalen Vergleich in Deutschland noch verstärkten Aufholbedarf. Das gilt leider für viele Branchen – sowohl mit Blick auf die dafür erforderliche technologische Infrastruktur als auch insbesondere unternehmerisches Denken und Handeln: Wir brauchen auf allen Ebenen – vom Individuum über Unternehmen als auch insgesamt als Gesellschaft – mehr Mut für Veränderung und übergreifende Zusammenarbeit, um Innovationen voranzutreiben.
Welche Rolle nehmen deiner Meinung zufolge Start-ups bei der Digitalisierung der Versicherungsbranche ein?
Start-ups sind zentrale Treiber und gleichermaßen Impulsgeber für Innovation und Transformation. Ihr Fokus auf State-of-the-Art-Technologien, kund:innenzentrierte Entwicklung, hohe Anpassungsfähigkeit und pragmatische Lösungsorientierung machen sie zu einem unverzichtbaren Faktor der Digitalisierung.
Konkret bieten sich InsurTechs zwei mögliche Rollen in der Positionierung. Zum einen können sie sich als Challenger positionieren, eigenständig neue Wertangebote für den Markt kreieren und so den Status quo sowie etablierte Unternehmen der Branche herausfordern. Zum anderen bietet sich die Möglichkeit, als strategischer Kooperationspartner mit tradierten Institutionen zusammenzuarbeiten. Dieses Modell ist – aufgrund regulatorischer, investiver und kund:innenbezogener Herausforderungen – gerade im InsurTech-Bereich am häufigsten anzutreffen. Ausschlaggebend für den Erfolg dieses Modells ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe, mit gemeinsam klar definierten Zielen und Meilensteinen sowie offener Kommunikation auf dem Weg dorthin.
Wo würdest du die deutsche InsurTech-Szene im internationalen Vergleich verorten? Wie wettbewerbsfähig ist das deutsche InsurTech-Ökosystem?
Trotz einer generell positiven Entwicklung gibt es hierzulande noch Handlungsbedarf, wie unsere kürzlich veröffentlichte Studie zeigt. Darin haben wir Deutschland mit den größten InsurTech Märkten Europas – sprich UK und Frankreich – verglichen und Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede festgestellt. Beispielsweise fokussieren sich in die meisten InsurTechs in allen Ländern mit ihrer Lösung auf die Kundenschnittstelle im Unfall- und Sachversicherungsbereich im Rahmen von Direct-to-Consumer (D2C)-Business Modellen.
Die Unterschiede hingegen beginnen jedoch bereits bei der Betrachtung der Anzahl an InsurTechs, die sich in ihrem Kerngeschäft auf Versicherungen fokussieren. Während Großbritannien 224 und Frankreich 194 InsurTechs vorweisen kann, sind es bei uns nur 128 – und dass, obwohl Deutschland die größte Volkswirtschaft Europas ist. Deutschland hat darüber hinaus – trotz des höchsten kumulierten Investitionsvolumens zwischen 2019 und 2022 – beim Thema Start-up-Finanzierung großen Aufholbedarf, da der größte Teil dieser Summen Wefox zuzuordnen ist. Würde man nun weitere Branchengrößen wie Clark oder Getsafe aus der Gleichung nehmen, dann sind die Investitions- und Fördergelder für Start-ups in der Versicherungsbranche stark begrenzt und stammen außerdem sogar meist von ausländischen Kapitalgebern.
Es gibt also großen Handlungsbedarf – für die Politik etwa in Form der Start-up-Strategie der Bundesregierung, aber auch für Brancheninitiativen und deutsche Kapitalgeber. Nur wenn man diese Herausforderung mit vereinten Kräften angeht, kann Deutschland auf lange Sicht zukunfts-, innovations- und wettbewerbsfähig sein und bleiben.
Welche Erfolge haben sich denn für und von InsurTechs hierzulande bereits realisieren lassen, was blieb deiner Meinung nach bislang auf der Strecke?
Grundsätzlich haben sowohl das Challenger- als auch das Kooperations-Modell in den letzten Jahren Positivbeispiele hervorbringen können. Beim Challenger-Modell haben Neoinsurers etwa nach anfänglichen Schwierigkeiten bei der Kund:innengewinnung zuletzt große Schritte machen können. Einerseits begünstigt durch die Pandemie und ihren Fokus auf Digitalisierung, andererseits durch ihre Nähe zu neuen Kund:innengruppierungen oder innovative Lösungsansätze wie beispielsweise Wefox, Neodigital oder Ottonova.
Bei den partnerschaftlich orientierten Strategien sind ebenfalls zahlreiche erfolgreich umgesetzte Use Cases und langfristig ausgelegte Kooperationen über die gesamte Wertschöpfungskette zu beobachten. Sowohl in Kernbereichen wie Produktentwicklung und Vertrieb, Underwriting oder Schaden als auch in den Support- und Betriebsfunktionen.
Die wesentliche Herausforderung für die Kooperationspartner bleibt dabei das ganzheitliche Durchdenken der Customer Journey sowie eine End-2-End Prozessintegration: Angefangen von den Endkund:innen über (Vertriebs-) Partner bis hin zur Abwicklung. Oftmals bleibt es nämlich bei „Silo-Lösungen“, sodass vorhandene Potenziale nicht vollumfänglich ausgeschöpft werden. Das birgt die Gefahr, dass sich Erfolge nicht in erwartetem Maße und vorgesehener Zeit einstellen. Wir sehen hier bereits in der Zusammenarbeit verschiedener Unternehmensbereiche und Funktionen starke Fortschritte, natürlich auch begünstigt durch neue Organisationsstrukturen wie Agile Transformation. Aber es gilt hierauf weiterhin besonderes Augenmerk zu richten – ebenso wie auf klare Priorisierung und effizienten Ressourceneinsatz.
Welche Rolle spielt der Faktor Nachhaltigkeit / ESG in den Geschäftsmodellen der Versicherungsbranche?
Generell: Eine stark wachsende Rolle. Zum einen erscheinen immer mehr Start-ups, die ESG- und Nachhaltigkeitsthemen fest in ihrem Geschäftsmodell verankert haben, wie beispielsweise PlanA oder SUMM aus unserem letzten Accelerator-Jahrgang – oder wo diese Kriterien ein zentrales Element der eigenen Unternehmenskultur und Positionierung als verantwortungsbewusster Arbeitgeber sind. Zum anderen rücken die Bereiche ESG und Nachhaltigkeit auch auf Seiten der Corporates immer stärker in den Fokus. Wie die Aktivitäten unserer Mitglieder und in unserem Ökosystem zeigen, gehen die allgemeinen Entwicklungen aber in die richtige Richtung. Die Gothaer präsentierte bei unserem C-Level Kaminabend etwa ihren großen Nachhaltigkeitsbericht sowie einen Überblick darunterliegender strategischer Maßnahmen, während beispielsweise die AXA bei unserem Topic Day Nachhaltigkeit über ihre bereits umfänglichen Aktivitäten in dem Bereich nachhaltige Kapitalanlage berichtete. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass viele Unternehmen zentral oder dezentrale operierende Teams eingeführt haben, die sich der strategischen Umsetzung von Nachhaltigkeit widmen geht. Wir spüren hier also eine große Offenheit, an diesen Themen gemeinsam mit Partnern und Start-ups zu arbeiten oder diese zu fördern.
Welche Herausforderungen kommen 2023 auf die Versicherungsbranche und auf InsurTechs zu? Wie kann das InsurLab Germany hierbei unterstützen?
Aus thematischer Sicht haben wir – basierend auf unserer letzten Mitgliederumfrage – zwei zentrale Themen identifiziert, die wir vertiefend behandeln werden, begleitet vom übergreifend verorteten Thema Transformation. Zum einen ist Ressourcen- & Prozesseffizienz durch innovative Lösungen ein Enabler für sinkende Kostenquoten und insgesamt wirksamere, mehrwertstiftende Wertschöpfungsaktivitäten. Zum anderen bietet der Bereich Omni-Channel / Digital-Sales & Embedded Insurance eine Vielzahl an Möglichkeiten, Versicherungsprodukte und -dienstleistungen näher und digitaler an den Wünschen sowie Bedürfnissen der Kund:innen zu orientieren.
Um die Branche nachhaltig weiterzuentwickeln und Start-ups gezielt zu fördern, haben wir als InsurLab Germany verschiedene Angebote entwickelt. Unser bewährtes Accelerator-Programm etwa legt den Fokus auf die Initiierung neuer Kollaborationen. Wir bieten darüber hinaus ein proaktives Scouting und Match-Making an, bei dem wir unsere Mitglieder sehr gezielt und gemäß ihren individuellen Bedürfnissen dabei begleiten, für sie passende Lösungsanbieter zu finden. Außerdem vernetzten wir InsurTechs mit Partner-VCs sowie nationalen und internationalen Partnern aus unserem Netzwerk, um diese beim Thema Finanzierung, Skalierung und Expansion zu unterstützen. Last, but not least haben wir natürlich auch viele weitere Angebote: Topic Groups für den Expert:inennaustausch, die insureNXT als große Bühne für Innovation in der Versicherungswirtschaft, die Academy als Weiterbildungsformat für die Branche, eigene und Partner-Veranstaltungen – da ist ganz sicher für alle Bedürfnisse etwas dabei.
Gemeinsam mit unseren Mitgliedern und unserem Ökosystem wollen wir als Brancheninitiative einen wesentlichen Beitrag zur Transformation und Innovationsfähigkeit der Versicherungswirtschaft leisten. Wir verstehen uns hier ganz klar als Think-Tank und aktiver Mitgestalter dieses Wandels!
Über Anna Kessler
Anna Kessler ist seit dem Sommer 2020 beim InsurLab Germany in verschiedenen Rollen tätig. Gestartet als Senior Start-up Manager, übernahm sie im Januar 2022 als Ecosystem & Program Director die Verantwortung für die Weiterentwicklung des Ökosystems bzw. Mitglieder- und Partnernetzwerks. Zum 1. Mai 2023 trat sie die Nachfolge Sebastian Pitzlers in der Geschäftsführung der Brancheninitiative an. Vor ihrer Tätigkeit beim InsurLab Germany war Kessler rund neun Jahre bei der Deutschen Bank tätig. Dort war sie maßgeblich an strategischen Projekten und an Business-Development-Initiativen beteiligt, unter anderem beim Aufbau des Deutsche Bank VersicherungsManager. Anna Kessler hat einen Master in Law and Business (MLB) der Bucerius Law School / Otto Beisheim School of Management (WHU) und schloss ihr Studium mit einer Zugehörigkeit zu den oben zehn Prozent ihres Jahrgangs ab.
Neben beruflichen Stationen in Rotterdam, Hamburg und Frankfurt, ist Anna Kessler auch privat viel unterwegs: Mittlerweile hat sie über 55 Länder bereist und erkundet immer neue Ecken auf dem Globus. Wer sich sportlich mit der ehemaligen Leichtathletin messen mag, kann das beim Radfahren, Tennis oder Skifahren tun.